Seit 24 Jahren lebt Tobias Brandner in Hongkong. Er arbeitet als Theologieprofessor und Gefängnisseelsorger. Universität und Gefängnis – als Brandner in Hongkong ankam, schienen diese zwei Welten weit voneinander entfernt. Doch durch die Proteste der Demokratiebewegung in Hongkong sind sie plötzlich nah zusammengerückt. „Viele Studierende sind in die Proteste involviert. Einige kommen nun auch mit der Realität im Gefängnis in Berührung“, sagt Tobias Brandner. „Im Gefängnis treffe ich zudem gelegentlich ehemalige hohe Regierungsbeamte.“
Claudia Buess, Leiterin der Bildungsveranstaltungen bei Mission 21, moderierte die Online-Diskussion. Mit einem Klick auf das Video können Sie die gesamte Diskussion ansehen.
Durch diese Gespräche und Kontakte kann Tobias Brandner anschauliche Hintergrundinformationen liefern, zum Beispiel zu den Hongkonger Demonstrationen gegen ein neues Sicherheitsgesetz aus China, die weltweit Schlagzeilen machen. In der Veranstaltungsreihe von Mission 21 „Dialog International“ erläuterte er am 18. Juni in einem virtuellen Gespräch sowohl geopolitische Zusammenhänge als auch persönliche Beweggründe der Menschen für die Proteste und die Auswirkungen der Corona-Pandemie.
Unsicherheit und gedämpfte Stimmung
Das vorherrschende Gefühl in Hongkong sei im Moment Unsicherheit, so Brandner. Niemand wisse, was das Gesetz, das in den nächsten Tagen verabschiedet wird, wirklich für die Menschen bedeute. „Es ist unklar, was man noch darf und was nicht. Mache ich mich strafbar, wenn ich mich für die Unabhängigkeit Hongkongs von China ausspreche? Auch die Experten wissen es nicht. Es ist eine Frage der Implementierung. Was wird geahndet, wie wird geahndet – das zeigt sich erst, wenn Urteile da sind“, sagt Brandner. Für Unsicherheit und eine gedämpfte Stimmung sorge auch das Corona-Virus.
„Im Moment ist das öffentliche Leben noch stark geprägt von Covid-19. Alle Leute tragen auf der Strasse einen Mundschutz. Doch sie sind wieder in grossen Massen unterwegs. Mit der kontinuierlichen Lockerung wurden die Demonstrationen wieder stärker aufgenommen. Aber sie sind nicht gleich gewalttätig wie im vergangenen Jahr“, so Brandner.
Interaktion im virtuellen Raum
Für Mission 21 war es die erste Veranstaltung von „Dialog International“, die im virtuellen Raum stattfand. Auch in diesem Rahmen war die Interaktion mit dem Publikum möglich, die das Format so wertvoll macht. Die Zuhörerinnen und Zuhörer stellten Tobias Brandner zahlreiche Fragen, unter anderem nach der Rolle der Kirche bei den Protesten.
„Das Christentum nimmt in den Protesten eine ausserordentlich wichtige und starke Rolle ein“, sagte Brandner. Die meisten Christen seien nicht einverstanden mit der gewalttätigen Seite der Bewegung, seien jedoch engagiert. „Die Kirchen äussern sich nicht explizit politisch. Aber sie beteiligen sich mit moralischer Unterstützung der Demonstrierenden und sie distanzieren sich nicht von ihnen.“ Es sei denkbar, dass die christliche Kirche in Hongkong aktuell wieder attraktiver für junge Menschen werde, so Brandners Einschätzung. „Die Kirchen sind ein grossartiger Raum für zivile Freiheit.“
Viele denken an Emigration
Ein Zuhörer wollte wissen, ob man Tobias Brandner gefährde, wenn man aus dem Ausland mit ihm chatte. „Nein“, sagte Brandner, und fügte an: „Viele Menschen denken über die Emigration nach. Fast täglich treffe ich Freunde und Bekannte, die auswandern wollen.“
Er selbst habe jedoch nicht vor, Hongkong zu verlassen: „Ich erlebe meine Arbeit als spannender denn je. Ich kann an einem Brennpunkt der Gesellschaft tätig sein und habe Zugang zu den Gefangen, oft sehr engagierte Leute. Das ist ein Privileg.“
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