Am 8. März war der Weltfrauentag. Zu diesem Anlass wollen wir bei Mission 21 die Erfolge von Frauen feiern – hier in der Schweiz und weltweit. Zum Beispiel von Cecilia Castillo Nanjari: Die chilenische Theologin ist Teil des internationalen Netzwerks von Mission 21 und wurde dieses Jahr mit dem Sylvia Michel Preis ausgezeichnet. Der mit 5000 USD dotierte Preis wird alle zwei Jahre von den amtierenden Präsidentinnen Schweizer reformierter Kirchen zusammen mit dem Büro des Reformierten Weltbunds für kirchliche Erneuerung, Gerechtigkeit und Partnerschaft verliehen. Wir haben Cecilia Castillo Nanjari im Missionshaus zu einem Gespräch getroffen.
Mission 21: Was bedeutet dieser Sylvia Michel Preis für Sie?
Cecilia Castillo-Nanjari: Ich fühle mich geehrt und dankbar. Einerseits, weil ich für diesen Preis ausgewählt wurde. Aber auch, weil die Frauen der verschiedenen Kirchen in der Schweiz mich während der Zeit hier wirklich extrem liebenswürdig umsorgt haben, es war einfach toll. Der Preis bedeutet für mich aber auch eine grosse Verantwortung. Ich kenne viele faszinierende Theologinnen, die diesen Preis mindestens ebenso verdient hätten wie ich. Ich möchte nun noch engagierter mit ihnen zusammenarbeiten, um Frauen zu fördern.
Was ist Ihre konkrete Tätigkeit?
Ich arbeite einerseits als Dozentin an der Evangelischen Bibelgemeinschaft (CTE), wo ich aktuelle soziale Themen immer in den Unterricht einbaue. Gleichzeitig engagiere ich mich für den Lateinamerikanischen Kirchenbund (CLAI) und mache dort viel internationale Netzwerkarbeit. Denn wir stärken so unsere Schwesternschaft und das Gefühl, nicht alleine zu sein. Der Begriff der Schwesternschaft nach der mexikanischen Anthropologin Marcela Lagarde meint mehr als einfach gegenseitige Unterstützung und Solidarität unter Frauen: Durch schwesterliches Verhalten transformieren wir die Gesellschaft ganz konkret, indem wir die Möglichkeit eines würdevollen Lebens für Frauen in Fülle vorleben.
Weshalb ist es in Chile wichtig, die Rechte von Frauen zu fördern?
Frauen werden politisch und ökonomisch stark benachteiligt. Das zeigt sich bei der aktuellen Protestbewegung in Chile. Auch von den Ungerechtigkeiten, die angeprangert werden, sind die Frauen oft doppelt betroffen.
Erzähle mir von der politischen und sozialen Situation in Chile.
Am 18. Oktober 2019 protestierten Studierende in der Hauptstadt Santiago gegen die Fahrpreiserhöhung der Metro, indem sie massenhaft schwarz fuhren. Seither entbrennt ein sozialer Aufstand, der an Stärke nicht mehr abgebrochen ist. Denn von Anfang an ging es um viel mehr als um diese Fahrpreiserhöhung – diese war lediglich der Auslöser. Das neoliberale System in Chile beutet die Menschen aus und dient den wirtschaftlich-politischen Eliten zu. Alles ist privatisiert, sogar das Gesundheits- und Bildungswesen. Viele Menschen sind verschuldet, die Mittelschicht gibt im internationalen Vergleich absurd hohe Teile ihrer Einkommens für lebensnotwendige Güter aus. Die Menschen haben genug. Diese Bewegung verbindet sich auch mit weiteren Bewegungen – etwa der Studierendenbewegung von 2010 oder den indigenen Mapuche, die bisher von allen chilenischen Regierungen benachteiligt wurden, sogar unter der progressiveren Michelle Bachelet. Alle diese Bewegungen gewannen unter den aktuellen Umständen an Kraft. Früher kämpften etwa die Mapuche alleine, nun kämpfen wir alle zusammen.
Sie unterstützen die Proteste also?
Sicher! Bereits drei Tage nach dem Beginn der Aufstände schrieben wir zwei Briefe an den Präsidenten, einen mit den Ökumenischen Kirchen Chiles, einen mit dem Lateinamerikanischen Kirchenbund. Denn wir waren schon kurz nach Beginn der Proteste beunruhigt über das Ausmass der Repression. Dank den neuen digitalen Möglichkeiten geht es zum Glück in so einer Krise schnell, sich auszutauschen und zu vernetzen.
Wie geht es nun weiter?
Die soziale Ungerechtigkeit in Chile ist auch in der veralteten Verfassung verwurzelt, die noch aus Pinochets Militärdiktatur stammt. Am 26. April wird in Chile nun darüber abgestimmt, ob wir eine neue Verfassung wollen, sowie darüber, wie diese zustande kommen soll.
Haben die Proteste seit diesem Zugeständnis an Kraft verloren?
Nein, denn viele finden, dass es viel zu wenig weit geht: Die Regierung soll nach wie vor mindestens 80 Prozent der Inhalte einer möglichen neuen Verfassung bestimmen. Aber es ist immerhin ein Anfang. Die Regierung versucht alles, um die Proteste einzudämmen – nun macht sie den Demonstrierenden sogar Angst mit dem Coronavirus. Aber ich denke, diese Bewegung stoppt nicht, bevor sich nicht wirklich etwas verändert. Für viele ist ein Punkt erreicht, an dem sie nichts mehr zu verlieren haben. Manche wünschen sich zwar, dass wir endlich wieder zur Normalität zurückkehren, aber ich bin anderer Meinung. Wozu all die Kämpfe, all die verlorenen Augen, wenn wir jetzt aufgeben?
Welche Rolle haben Frauen in der aktuellen Protestbewegung?
Eine sehr wichtige. Die Bewegung wird hauptsächlich von jungen, selbstbewussten Menschen getragen und die Feministinnen sind dabei eine treibende Kraft. Allgemein sind Frauen oft tragend für politische und soziale Bewegungen – das sahen wir in Chile schon während der Militärdiktatur, etwa bei der Bewegung “no mas hambre” (dt. “kein Hunger mehr”).
Und welche politische und soziale Rolle hat die Kirche – aktuell in Chile und allgemein?
Mit einer progressiven ökumenischen Gruppe sind wir in der aktuellen Bewegung sehr aktiv, wir verbreiten zum Beispiel Infovideos über die neue Verfassung in den sozialen Medien, um den Menschen die Angst vor Veränderungen zu nehmen. Wenn wir uns auf die Essenz der Bibel und von Jesus’ Worten berufen, haben wir als Christinnen und Christen eigentlich eine enorme politische Verantwortung: Im Grunde geht es im Christentum um ein gutes Leben für alle Menschen, was eigentlich eine sehr politische Forderung ist. Doch natürlich gibt es immer alles: Die offizielle katholische Kirche in Chile hält sich vorsichtig zurück mit Regierungskritik, während viele katholischen Basisgruppen sich mit uns engagieren. Einige evangelikale Gruppen sind eng mit der rechten Wirtschaftselite verbunden und sprechen sich gegen die Proteste aus. Leider haben diese konservativen Gruppen oft mehr finanzielle Mittel, können sich dadurch Gehör verschaffen – und prägen so auch das Bild der Kirche in der Öffentlichkeit.
Was ist die Motivation für deine Arbeit und deinen Einsatz?
Von meinen Grosseltern, die auch Pfarrpersonen waren, und von meinen Eltern bin ich stark geprägt – alles sehr soziale Persönlichkeiten, die in ihrem Glauben verwurzelt waren. Schon während meines Theologiestudiums habe ich mich ehrenamtlich für sozial benachteiligte Mädchen in Chile eingesetzt. Ich finde es wichtig, mich nicht nur in einem spezifischen Umfeld zu bewegen, sondern mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren zusammenarbeiten – sei es in Favelas in Brasilien oder in Chile, mit kirchlichen Gruppierungen, aber auch mit sozialen und politischen Akteuren und UN-Instrumenten. Ich glaube zutiefst an die zwischenmenschliche Begegnung und daran, dass wir uns gegenseitig bereichern – und dass so eine Transformation möglich wird.
Interview: Mara Wirthlin